Andrea Harmonika : Das beschissene Wunder der Geburt

06/05/2020

Das beschissene Wunder der Geburt

Oder: Die Würde der Mutter ist scheinbar antastbar

Es war einmal ein Gynäkologe namens Grantly Dick-Read. Er kritisierte in den 1930er Jahren die fatale Wandlung der modernen Geburtshilfe von einem natürlichen Vorgang hin zu einem mit Risiken belasteten medizinischen Ereignis.

Interessanterweise ging er für seine These in die Geschichte ein, obwohl sich vorher bestimmt bereits tausende von Hebammen mit exakt den selben Worten ihren Mund fusselig geredet hatten.

Tatsächlich ist es aber weitaus fataler, dass sich trotz dieser "Erkenntnis" immer noch nichts getan hat. Die Geburt ist nach wie vor in fast allen beteiligten Köpfen eine medizinische Angelegenheit. Man wird das Gefühl nicht los, als würde die Geburt einem entzündeten Blinddarm gleichen. Aufmachen, ausräumen, zumachen und Gute Besserung Herzlichen Glückwunsch.

Aber im Gegensatz zum Blinddarm ist dieser Wurm in unserem Körper kein Fortsatz, den es zu entfernen gilt. Er will geboren werden. Und zwar von uns Müttern. Wir sind nämlich keine teilnahmslosen Brutkästen, die es zu leeren gilt. Die Geburt ist UNSERE Aufgabe und dabei wollen wir von ebenso versierten wie unaufdringlichen Händen begleitet werden.

Das englische Wort für Geburtswehen heißt nicht umsonst "labour". Labour bedeutet nämlich Arbeit. Die Geburt ist Arbeit. Unsere Arbeit. Aber leider werden viel zu viele Frauen an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert. Mehr noch, sie werden ge- und verstört.

Mancherorts gleicht der Entbindungsbereich einer U-Bahnstation voller Bauarbeiter, die im 20-Minutentakt mit Kopflampen und Messgeräten den Tunnel inspizieren. Manche Frauen haben phasenweise im Kreißsaal mehr Hände in ihrer Gebärmutter als so mancher Wühltisch während des Winterschlussverkaufs.

Ich kann sie kaum noch hören. Diese vielen traurigen, unfassbaren und beklemmenden Geburtsgeschichten. Oder schlimmer noch, Mütter, die auch nach Jahren immer noch nicht in der Lage sind, überhaupt über das Erlebte zu sprechen. Über ihre Ängste oder Schuldgefühle, den erlittenen Kontrollverlust, ihre Hilflosigkeit und vor allem den Schmerz über die Tatsache, aus ihrer eigenen Geburt ausgegrenzt, zum Zuschauer degradiert worden zu sein.

"Ach komm, Hauptsache gesund!" werden sie abgewunken. Wer möchte sich dann noch die Blöße geben, eben nicht vollkommen glücklich zu sein. Denn natürlich gibt es diese wachsende, unendliche Liebe gegenüber unseren Kindern, aber dennoch gibt es viele Mütter, die einen hohen und geheimgehaltenen Preis für dieses Glück zahlen müssen.

Dabei ist doch angeblich alles Erlebte sofort vergessen, wenn man sein Kind in den Armen hält. Aber egal mit welcher Mutter ich gesprochen habe, ob 80 oder 18, ausnahmslos alle konnten die Grenzerfahrung "Geburt" ad hoc aus ihrem emotionalen Schmerzgedächtnis abrufen. Dabei ist es im Übrigen egal, auf welche Art und Weise eine Mutter entbunden hatte, denn niemand sollte sich dem Irrglauben hingeben, ein Kaiserschnitt (ob geplant oder nicht) wäre ein Spaziergang über eine Frühlingswiese, auf der man sich ein Baby pflückt.

Und jetzt höre ich schon den Aufschrei der empörten Krankenhäuser, der Gynäkologen und Geburtsbeisitzer, wie sie lamentieren und klagen, dass es aber doch die Schwangeren seien, die am liebsten alle 12 Stunden eine Doppler-Sonographie wünschen, um ihre Hysterie im Zaum zu halten.

Aber ich frage euch, WER hat denn diese unmündigen, verunsicherten Schwangeren überhaupt erst geschaffen? Wird doch alles unter dem strengen Auge der Medizin überwacht. Es wird gewogen, vermessen, genormt und kategorisiert. Nichts wird dem natürlichen Zufall überlassen.

Kein Wunder, dass bei solch einer Kontrollwut die unerfahrene Schwangere bei jeder quersitzenden Flatulenz in die Notaufnahme eilt.

Ach, wie undankbar, wo sich die Geburtskliniken doch mittlerweile so viel Mühe für uns geben und in jedem Kreißsaal eine Duftlampe oder Klangschale steht. Dass sie mit iPhone-Ladestationen, Schwungtüchern und Massagerollen ausgestattet werden.

Dieser ganze dekorative Firlefanz dient doch lediglich dem Zweck, vorab ein paar Geburtstouristinnen eine Candlelight-Geburt vorzugaukeln.

Aber wehe derjenigen, deren Wehen nach einem halben Tag den Muttermund immer noch nicht effizient genug geöffnet haben. Dann geht dem durchorganisierten Krankenhausalltag schnell die Luft aus, und der Lavendel wird gegen eine Schale voll geburtsbeschleunigender Medikamente getauscht.

Seid ihr nun so weit, dass ihr euch beleidigt zurücklehnt und die rhetorische Reißleine zieht: "Aber wenn es dann brennt, dann sind wir gut genug, oder was?"

Und jetzt bin in ich zum ersten Mal in unserem fiktiven Dialog erleichtert.

Halleluja! Ihr habt uns verstanden. Endlich. Genau so ist es nämlich.

Ihr sollt tatsächlich erst eingreifen, wenn es brennt! Aus diesem Grund gibt es nämlich die Feuerwehr. Und für diesen Umstand sind wir der Feuerwehr sehr, sehr dankbar.

Die kommt nämlich tatsächlich erst zum Einsatz, wenn die Hütte brennt, aber nicht, um eine Kerze auszublasen.

Um die Kerze kümmern wir uns nämlich selber. Gemeinsam mit unseren Hebammen. Das sind diese qualifizierten Damen, ohne die im Krankenhaus keine Geburt durchgeführt werden darf. Ihr wisst schon, diejenigen, mit denen sich das ärztliche Personal immer in der Wolle hat, weil sie alles besser wissen oder keinen so lockeren Umgang mit dem Dammschnitt pflegen.

Ob das jetzt nicht vielleicht doch ungerecht ist? Na klar ist es das.

Selbstverständlich gibt es hervorragendes medizinisches Personal jenseits der Hebammen in unseren Geburtskliniken, aber dennoch kenne ich einfach mehr Mütter, die auch nach Jahren noch zutiefst bedauern, nicht genug Kraft gehabt zu haben, um ein Stück Lattenrost aus dem Krankenhausbett zu brechen und den anwesenden Gynäkologen mit den Worten: "LAUF!" aus dem Kreißsaal zu jagen.

Und jetzt muss ich an meine letzte Hebamme denken, die in den frühen Morgenstunden, als ich mich meinem postpartialen Oxytocinrausch hingab, an meinem Bett saß und bitterlich weinte. Weil ihr die hinter uns liegenden Stunden so unendlich leid taten. Weil ihr Beruf zu einer unter Zeitdruck stehenden Fließbandarbeit verkommen war. Und weil sie nun endgültig aufgeben würde.

Da haben wir den Salat.

Denn jetzt ist der Zeitpunkt da, dass die Hebammen berufsmüde sind, oder sich eingestehen müssen, dass man von positiver Geburtsbegleitung allein keine Versicherungen bezahlen kann.

Eine nach der anderen wird das sinkende Mutterschiff verlassen. Und alles nur, weil man ihnen das Ruder entzogen hat und die Geburt zu einem lukrativen ICD-Schlüssel verkommen ist.

Wir sollten die wenigen Geburtshäuser, die es überhaupt noch gibt, unter Naturschutz stellen. Und eines Tages werden auch die Hebammen, die Hüterinnen unserer mütterlichen Würde, ausgestorben sein.

Schwelgen wir also ein bisschen in absurden Ideen. Dass vielleicht eines Tages die Kreißsäle abgeschafft und an freischaffende Hebammen vermietet werden. Dass unabhängige Geburtshäuser in Krankenhäusern entstehen. Dass, wenn sich eine Kerze in einen Flächenbrand verwandelt, und nur dann, die Feuerwehr zum Einsatz käme.

Für alle Mütter, die ein positives Geburtserlebnis hatten. Sie sind lebendiges Beispiel für das wahre Wunder der Geburt.

Für alle Mütter, die eine negatives Geburtserlebnis hatten. Dass sie ihren ganz persönlichen Frieden mit dem Wunder der Geburt schließen können.

Für das Krankenhauspersonal, das tatsächlich ein echtes Interesse an positiver Geburtshilfe hat.

Und natürlich für unsere Hebammen. Die Hüterinnen der Geburt. Aber vor allem für diejenigen, die resigniert haben.